Süß muten sie an, die zum Quadrat angeordneten Pralinen von Angelika Selma Alles. Zunächst, denn schon im nächsten Augenblick wird klar, es handelt sich nicht nur um liebevoll verziertes Naschwerk. Was steckt also darunter, unter der schokoladig-süßen Oberfläche? Eine Frage übrigens, mit der sich die Künstlerin schon lange beschäftigt. Aufmerksam betrachtet Angelika Alles die Umgebung, beobachtet Verhaltensweisen, gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen. Hoher Zeitdruck, Hektik, das Streben nach Perfektion gehören zum Alltag. Dem entgegenwirkend ist die Tendenz zu wieder mehr Selbstgemachtem nicht zu verkennen.
Die Künstlerin folgert daraus, der Mensch empfinde wieder mehr das Bedürfnis, sich zu spüren. Kleider werden wieder selbst genäht, Gärten, auffallend vor allem auch in den schnelllebigen Städten, gehegt und gepflegt, Rezepte ausprobiert und, nicht zuletzt, Pralinen selbst gezaubert. All dies ist nicht schnell gemacht, es braucht seine Zeit. Ablehnung und Widerstand sind zu spüren, Widerstand gegen die geforderte Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft, im Beruf, in der Politik, ja auch im Privaten. Der ausgesprochen langwierige Entstehungsprozess der „Pralinen“ spiegelt dieses Phänomen des Bedürfnisses nach Langsamkeit genau wider. Die Künstlerin gießt den nur allmählich trocknenden Lack zu kleinen Formen, um diese anschließend weiter zu bearbeiten, Versiegelung aufzutragen, mit Luftpolsterfolie zu umwickeln, wieder zu übermalen und erneut Lack aufzutragen.
Eingearbeitete und durchdringende Haushaltsgegenstände wie Klebeband, Faden, Scheuermilch, TippEx und Wattestäbchenwerden von ihrer eigentlichen Funktion losgelöst, „dekorieren“ die runden und viereckigen Häppchen. Oder dienen die Alltagsutensilien als Metaphern? Die Substanz der Pralinen ermöglicht durch das Haptische, leicht „Begreifbare“ einen schnellen Zugang des Betrachters, fordern jedoch sogleich dessen Aufmerksamkeit, um subtile Zusammenhänge überhaupt erkennen zu können. Die Augen wandern über die Oberfläche, man entdeckt die Materialien, die sich beim genauen Hinsehen immer wieder neu und anders erschließen. Diverse Assoziationen entstehen durch Form, Material und Muster. Stimmungen und Gefühle wie Ekel und Wut, Verzweiflung und Isolation sind genauso spürbar wie Schönheit, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit. Mehrdeutigkeiten sind bewusst offen gelassen und erwünscht, auch um den Betrachter in seiner Wahrnehmung nicht zu behindern. Die persönliche Wahrnehmung wird geschärft und sogleich auch wieder in Zweifel gezogen. Ein kritischer Spiegel der Gesellschaft in Pralinen ausgedrückt? Eine humoristische und doch zugleich ernstzunehmende Arbeit, die viele Fragen aufwirft und zur Selbstreflexion animiert.
Katja Vobiller, 2012